Ist der Wasserstrahlschnitt in der Glasbearbeitung ein alternativloses Must-Have?

Wir sind der Frage auf den Grund gegangen und haben dafür 4 Spezialisten interviewt:

  • Franz Schachner – Gründer und Geschäftsführer von systron und Patentinhaber einer besonderen Wasserstrahltechnologie für die vertikale Glasbearbeitung
  • Thomas Haan – Head of Sales bei systron mit 17 Jahren Erfahrung in der Glas- und Automatisierungsbranche
  • Christoph Schmitt – Spezialist für Hochdruckpumpen von Uhde High Pressure Technologies
  • Daniel Haslinger – Head of Sales von ALLFI Group AG

Kurzbeschreibung

der 3 oben genannten Unternehmen, die sich intensiv mit dem Thema Wasserstrahlschneiden auseinandersetzen:

systron GmbH

Wir sind Hersteller von vertikalen Glasbearbeitungsanlagen, seit 2014 setzen wir diese Technologie in unseren Anlagen – dem systron proHD Glasbearbeitungszentrum sowie der systron HD Wasserstrahl-Schneidanlage – ein, um Glas zu schneiden.
Firmenhauptsitz: Wolfsbach in Österreich, 60 Mitarbeiter

Uhde High Pressure Technologies GmbH

Hersteller von Hochdruckpumpen; seit 1930 auf dem Gebiet der Hochdrucktechnologien tätig. Teil der thyssenkrupp AG.
Firmenhauptsitz: Hagen in Deutschland, 350 Mitarbeiter, weitere Standorte auf jedem Kontinent

ALLFI Group AG

Hersteller von Hochdruckkomponenten für Wasserstrahlschneiden.
Firmenhauptsitz: Stans in der Schweiz, 40 Mitarbeiter, weitere Standorte in Österreich, Japan, China, den USA und Brasilien

1. Seit wann gibt es die Wasserstrahl-Technologie am Markt? Wer hat dieses Verfahren als erster eingesetzt und wozu?

Christoph Schmitt: Wasserstrahlschneiden wurde in den 50ern durch Dr. Norman Franz an der Universität Berkley in Kalifornien entwickelt, zu Beginn wurden aber nur verhältnismäßig weiche Materialien wie Pappe, Papier geschnitten und dann auch nur mit einem reinen Wasserstrahl. Ziel war es ein effizienteres Verfahren zum Holzschneiden zu entwickeln. In den 1970ern wurde dann das Wasserstrahlschneiden durch Dr. Mohamed Hashish zum Abrasiv-Wasserstrahlschneiden weiterentwickelt, mit dem durch die deutlich erhöhte Schneidenergie härtere und dickere Materialien geschnitten werden konnten.

2. Wie funktioniert Wasserstrahlschneiden – grob skizziert? Wie ist der Aufbau einer Hochdruckeinheit? Was außer Wasser wird zum Schneiden benötigt?

Thomas Haan: Funktionsweise: Die mit Frischwasser arbeitende Hochdruckpumpe erzeugt mittels Hydraulikaggregat und dem Druckübersetzer einen Wasserdruck von 3000-4000bar. Mittels dickwandiger Hochdruckrohre und Ventilen wird der Wasserdruck zum Schneidkopf befördert. Aufgrund der Geschwindigkeit des Wassers (mehr als 1000m/sec) wird in der Mischkammer ein Unterdruck erzeugt. Dieser saugt aus der Dosiereinheit die jeweils eingestellte Sandmenge ab und vermischt dies mit dem Wasser. Ein Diamant oder Saphir in Kombination mit dem Fokussierrohr bündeln dies zu einem Strahl mit ca. 0,8mm Durchmesser.

Christoph Schmitt erläutert die Funktion der Hochdruckpumpe genauer: Die klassischen Hochdruckerzeuger funktionieren nach dem Druckübersetzer-Prinzip, bei dem ein Hydraulikantrieb über unterschiedliche Flächenverhältnisse Wasser in einen Hochdruckpumpenkopf ansaugt und anschließend über das Verdränger-Prinzip gegen einen Widerstand (Schneiddüse) Druck aufbaut. Um hier Druckeinbrüche zu vermeiden, arbeitet die Hochdruckpumpe mit einer Kombination aus doppeltwirkendem Hochdruckübersetzer und einem Pulsationsdämpfer, die Druckschwankungen auf ein Minimum reduzieren.

 

3. Wie kam es dazu, dass systron eine Anlage mit Wasserstrahlschnitt entwickelt hat?

Franz Schachner: Als Techniker und Konstrukteur waren mir die Bedürfnisse der Flachglasbranche im deutschsprachigen Raum bekannt. Es gab damals keinen Hersteller von vertikalen Bearbeitungsanlagen, der die Außen- sowie Innenkantenbearbeitung in Kombination mit der Wasserstrahltechnologie vereint. Mit einem kleinen, aber sehr starken Team im Rücken, konnten wir in einigen Monaten den ersten Prototyp bei einem sehr bekannten, österreichischen Glasveredelungsunternehmen installieren. Diese Anlage ist dort noch immer im Einsatz.

4. Welche Vorteile hat Wasserstrahlschneiden?

 Thomas Haan:

  1. Der Wasserstrahl macht die schwierigsten Arbeiten einfach. Flexibilität ist das Hauptargument. Es gibt kein umständliches Werkzeugmanagement, die Bedienung der Anlage ist sehr einfach.
  2. Komplexeste Konturen werden rasch geschnitten und können direkt gehärtet werden, es ist kein Nachschleifen oder Polieren notwendig. Damit spart man einen zusätzlichen Arbeitsgang und arbeitet im Vergleich zu konventionellem Bohren und Fräsen, pro geschnittenem Meter, günstiger und um ein Vielfaches schneller.
  3. Hohe Präzision mit Toleranzen von +/- 0,2mm, was exakte Schnitte und feine Details ermöglicht.
  4. Es sind keine Spezialwerkzeuge nötig, welche nach einem Spezialauftrag nie wieder benötigt werden
  5. Wasserstrahlschnitt ist sehr schonend zum Glas, es gibt keine thermische Vorspannung oder Glasbruch wegen zu hoher Prozesskraft. Bei konventionellem Fräsen kann die Kraft- und Temperatureinwirkung zu thermischen Vorspannungen führen. Wo man schnell erhitzt und wieder abgekühlt kann das Glas dort leichter brechen – gerade bei Sonderformen besteht erhöhte Gefahr. Die präzise und kalte Schnitttechnik sorgt für eine saubere Schnittkante und bewahrt die ursprüngliche Struktur und Festigkeit des Glases.
  6. Raschere Prozesse bei Stocksheet-VSG: Der Wasserstrahl kann den VSG-Schneidetisch entlasten. Mit unserer proHD wird aus dem Rechteck mittels Wasserstrahls die Sonderform geschnitten und im selben Durchgang komplett fertiggestellt.

5. Bis zu welcher Dicke kann geschnitten werden? Wie klein ist das kleinste Loch? Welche Materialien können geschnitten werden?

Christoph Schmitt: Bis zu 400mm Edelstahl können mit bis zu 6000 bar geschnitten werden. Bezüglich der Materialien ist alles möglich von Omas Kirschkuchen bis zu harten Aluminiumoxiden oder Komposit-Materialien. Und natürlich auch der Werkstoff Glas in allen Facetten.

Thomas Haan: Mit dem systron proHD Glasbearbeitungszentrum oder der systron HD Wasserstrahlschneidanlage schneiden unsere Kunden bis zu 30mm dickes Glas, sowie Keramik oder Naturstein, das kleinste Loch ist 2-3mm.

6. Wie aufwendig ist die Wartung der Wasserstrahleinheit?

Thomas Haan: Die Wartung des Hochdrucksystems wird üblicherweise vom Maschinenbediener selbst oder vom Instandhalter rasch und mühelos durchgeführt. Aufgrund des hohen Druckes kommt es natürlich zu Verschleiß. Speziell die Verbrauchsmaterialien wie Saphir, Fokussierrohr und die Mischkammer müssen von Zeit zu Zeit getauscht werden. Auch empfehlen wir, eine jährliche Wartung vom Pumpenhersteller Uhde, durchführen zu lassen. Jeder Teil kann separat und einfach getauscht werden. Auch empfehlen wir eine gewisse Lagerhaltung von Hochdruckteilen (zB Nadelventile, Hochdruckleitungen, etc.).

7. Was macht die Wasserstrahl-Technologie von systron so besonders?

Franz Schachner: Das Besondere an unserer patentierten systron Wasserstrahltechnologie ist der Einsatz eines patentierten Ventils. Es ermöglicht das Hochfahren bzw. Umschalten der Hochdruckpumpe in nur 1 Sekunde (statt bisher mindestens 6″) und gewährleistet somit einen enorm schnellen Wasserstrahlschnitt.

Wir haben außerdem eine Spezialfunktion, um den Nachlaufeffekt zu minimieren. Was das ist? Der Wasserstrahl Eintritt eilt vor, der Austritt hinkt nach – je dicker die Platte, desto stärker ersichtlich. Dieser Nachlaufeffekt wird durch automatische Geschwindigkeitsanpassungen enorm reduziert, was einen großen Einfluss auf die Genauigkeit und Toleranzen hat.

Außerdem arbeiten wir bei Ausschnitten über 10x20cm mit Brechlaschen, welche je nach Glasdicke angepasst sind. Große Innenausschnitte fallen somit nicht in den Bearbeitungsturm, sondern es werden Brechlaschen zur Erzeugung einer Sollbruchstelle gefertigt. So können große Innenausschnitte von einem Roboter oder dem Bediener entfernt werden und die Brechlasche wird folglich automatisch und vollkommen präzise per Wasserstrahl geebnet.

Wir setzen ausschließlich Teile von namhaften Herstellern wie Uhde und ALLFI ein. Daniel Haslinger: systron verwendet unseren ALLFI Abrasivschneidkopf mit federgeführter Nadel und patentiertem Dichtungssystem. Damit kann man das Glas schonend, mit niedrigem Druck einstechen um Ausplatzungen zu vermeiden. Die elektronisch regelbare Abrasivdosierung ermöglicht es dem Anwender außerdem, die Abrasivmenge während der Bearbeitung über die Maschinensteuerung flexibel in einem Bereich von 0 – bis 1000 g/min anzupassen.

Wasserstrahlschneiden mit Brechlaschen - Ausschnitt-Entfernung mit Roboter

8. Was sagen die Kunden, was sind deren Erfahrungswerte?

Zitat von Josef Gasperlmair (Glas Gasperlmair): „Ohne Wasserstrahl kommt man nicht mehr aus. Vor allem bei komplexen Ausschnitten hat diese Technologie enorme Vorteile. Bohren ist schwerer justierbar, von den unerreichbaren Taktzeiten ganz abgesehen. Zudem müssen Wasserstrahl-Löcher und -Ausschnitte zum Härten nicht nachbearbeitet werden, weil bei diesem Hochdruck-Verfahren keine Mikroeinläufe entstehen. Wir produzieren zwischen 400 und 600 Ganzglastüren jeden Tag, die Löcher für Beschläge müssen – wenn nicht explizit erwünscht – nicht geschliffen werden. Wir bearbeiten alle Sonderformen und Ausschnitte nur mehr auf unseren systron Anlagen. Umso komplexer desto wirtschaftlicher arbeiten wir damit.“ Zum vollständigen Artikel

Zitat von Matthias Baumgartner (Arbonia): „Der Wasserstrahler ist eine produktive Technologie, da er sehr vielseitig für Löcher und Ausschnitte eingesetzt werden kann. Da man erwartet, dass die gewünschten Gläser künftig noch komplexer werden, wird man an der Wasserstrahl-Schneidetechnik nicht vorbeikommen.“ Zum vollständigen Artikel

9. Mit welchen Vorurteilen ist Wasserstrahlschneiden behaftet?

Thomas Haan:

  • Nach dem Schneiden kann nicht direkt gehärtet werden
  • Der Wasserstrahlschnitt zerkratzt die Keramikrollen im Härteofen

Das kann man nach Erfahrungswerten beim Kunden von 10 Jahren klar verneinen. Die Schnittkante beim Wasserstrahlschneiden von Glas ist trüb, rau und präzise und muss daher vor dem Härteprozess nicht bearbeitet werden. Zusätzliches Schleifen oder Polieren ist natürlich möglich und kann gewünscht sein, um eine noch feinere Oberflächenqualität zu erhalten.

  • Die Wartung ist schwierig und intensiv

Das Wasserstrahlsystem ist einfach zu servicieren, es sind ausschließlich Standard-Teile verbaut. Oft fehlen die Erfahrungswerte und es besteht Angst vor Neuem. Wir schulen natürlich bei der Inbetriebnahme und jeder Kunde erhält bei Bedarf eine kostenlose Techniker-Schulung bei Uhde. Christoph Schmitt ergänzt zum Thema Wartung: Die Hochdrucktechnik ist eine zuverlässige Technologie. Die Wartungsarbeiten beschränken sich neben den klassischen Wartungsgängen einer Ölhydraulik im Wesentlichen auf den Austausch der Hockdruckdichtungen und Rückschlagventile.

  • Hohe Kosten für Energie

Thomas Haan: Anstatt Diamantwerkzeuge (und Energie zur Betreibung der Spindel) zu kaufen, muss man in Energie, Wasser, Schneidsand u. Verschleißteile investieren. Direkt gegenübergestellt, sieht man, dass die Wasserstrahl-Technologie schneller, flexibler und günstiger ist. Um die genauen Kosten zu berechnen, muss man Energie-, Sand-, Wasserpreis und die Wartungskosten berücksichtigen. Grundsätzlich kann man sagen, dass bei komplexeren Ausschnitten wie Mickey Mouse oder Steckdosenausschnitten der Wasserstrahl weitaus günstiger und schneller als konventionelles Bohren und Fräsen ist. Bei einfachen Löchern mit Senkungen ist dies umgekehrt. Im Vergleich muss man aber auch die Lagerkosten und das Werkzeugmanagement – Schärfen, Tauschen, Testen – berücksichtigen.

  • Hoher Wasserverbrauch

Für einen langlebigen Einsatz der Wasserstrahl-Technologie wird Frischwasser benötigt, welches aber über ein effizientes Wasseraufbereitungssystem – zB der systron SWR300 – wiederverwendet wird. Diese nachhaltige Wiederverwendung des Wassers trägt zur umweltfreundlichen Natur des Verfahrens bei.

10. Was sind die Nachteile vom Wasserstrahlschneiden im Glasbereich? Für welchen Anwendungsfall ist es nicht so gut geeignet?

Thomas Haan: zB bei großen Losgrößen mit einfachen Lochbohrungen ist konventionelles Bohren schneller und kostengünstiger. Man kann hier von beiden Seiten gleichzeitig Bohren und Senken. Jedoch gilt zu beachten: Wer kennt schon seine Produkte der Zukunft? Flexibler und einfacher ist der Wasserstrahl.

11. Welche Alternativen gibt es für Schneiden von Glas?

Thomas Haan: Vergleichbare Alternativen gibt es meines Wissensstandes momentan nur das konventionelle Bohren und Fräsen mit Diamantwerkzeugen. Die Alternative in der Zukunft wird wahrscheinlich der Laser sein. Dieser wird jedoch noch einige Zeit benötigen, um dicke Gläser (ab 8mm) in entsprechender Geschwindigkeit und ohne zu viel thermischer Vorspannung für das Glas bearbeiten zu können. Bei dünnen zB Displaygläsern werden Laser-Schneidtechnologien schon angewendet.

12. Gab es schon Kunden, die von der Wasserstrahl-Technologie wieder weg wollten?

Franz Schachner: Die wird es vermutlich schon geben, jedoch bislang kein einziger systron Kunde.

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